„Man muss auf alles gefasst sein“

In eini­gen Regio­nen ist Han­del nur unter größ­ter Gefahr für Leib und Leben mög­lich – so auch in West­afri­ka. In den Gewäs­sern gras­siert die Pira­te­rie. Wenn Schif­fe über­fal­len und See­leu­te ent­führt wer­den, kom­men Kri­sen­be­ra­ter wie Tobi­as Ruthe ins Spiel.

Von Micha­el Holl­mann

Die Angrei­fer schlei­chen sich im Mor­gen­grau­en im Schnell­boot her­an. Bevor das bestell­te Patrouil­len­boot für die Eskor­te zum nige­ria­ni­schen Hafen Onne auf­taucht, klet­tern sie flink die Bord­wand des hoch auf­ra­gen­den Frach­ters hin­auf, stür­men die Brü­cke und brin­gen die Besat­zung in ihre Gewalt. 30 Minu­ten spä­ter sind die Pira­ten mit zehn Gei­seln ver­schwun­den. Zurück blei­ben sechs asia­ti­sche See­leu­te, denen der Schock in den Glie­dern steckt, und ein Schiff, das sei­ne Fahrt erst ein­mal ohne Kapi­tän und Offi­zie­re irgend­wie fort­set­zen muss. Zig­mal pro Jahr spie­len sich sol­che Dra­men ab – frü­her im Golf von Aden, heu­te vor­nehm­lich in West­afri­ka. Für jede betrof­fe­ne Ree­de­rei ist es der schlimms­te anzu­neh­men­de Ernst­fall.

Es beginnt nun eine inten­si­ve Zeit. Alles dreht sich ab jetzt dar­um, die Mit­ar­bei­ter unbe­scha­det aus der Gewalt der Ent­füh­rer zu befrei­en und das Schiff mit der trau­ma­ti­sier­ten Rest-Crew in Sicher­heit zu brin­gen. Neben rein prak­ti­schen Maß­nah­men zur Fort­set­zung des Schiffs­be­triebs geht es in den kom­men­den Tagen und Wochen vor allem um Stra­te­gien und Ver­hand­lungs­ge­schick gegen­über den Gei­sel­neh­mern. In aller Regel benö­ti­gen Ree­de­rei­en dafür pro­fes­sio­nel­le Unter­stüt­zung von Bera­tern wie Tobi­as Ruthe.

Die Arbeit des Direc­tor Ope­ra­ti­ons des Ham­bur­ger Sicher­heits­dienst­leis­ters Tori­bos beginnt mit dem Auf­bau eines Kri­sen­teams beim betrof­fe­nen Unter­neh­men und endet, wenn alles gut läuft, nach drei bis sechs Wochen mit der Frei­las­sung und Eva­ku­ie­rung der ent­führ­ten See­leu­te. In den meis­ten Fäl­len han­delt es sich bei den Gei­sel­neh­mern um nige­ria­ni­sche Ban­den. Poli­ti­sche Insta­bi­li­tät, Armut und Kor­rup­ti­on im bevöl­ke­rungs­reichs­ten Land Afri­kas bil­de­ten einen idea­len Nähr­bo­den. „Ent­füh­rung gegen Löse­geld ist dort qua­si eine rich­ti­ge Indus­trie“, sagt Ruthe. Knapp ein Dut­zend Kaper­grup­pen – pro­fes­sio­nell aus­ge­rüs­tet und lokal gut ver­netzt – sei­en dort regel­mä­ßig aktiv. „Es gibt loka­le Pira­ten­kom­man­deu­re, die immer wie­der in Erschei­nung tre­ten und die man an bestimm­ten Sche­ma­ta zum Bei­spiel in den Ver­hand­lun­gen erken­nen kann.“ Vor allem auf euro­päi­sche See­leu­te hät­ten sie es abge­se­hen, „die haben den höchs­ten Markt­wert“.

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Auf eine mitt­le­re fünf­stel­li­ge Sum­me pro Gei­sel haben es die Ent­füh­rer in der Regel abge­se­hen, die zuerst noch höhe­re For­de­run­gen stel­len, wenn sie in Kon­takt zur Ree­de­rei tre­ten. „Das ist wie ein Dia­gramm mit zwei Kur­ven, die sich irgend­wo tref­fen“, so Ruthe. „Eine Kur­ve, die die For­de­run­gen der Erpres­ser dar­stellt, fällt ab. Eine ande­re bil­det die Zah­lungs­be­reit­schaft des Unter­neh­mens ab und steigt an.“ An einem bestimm­ten Punkt der Ver­hand­lun­gen ver­su­chen die Gei­sel­neh­mer immer den Druck zu erhö­hen, indem sie die See­leu­te zwin­gen, um ihr Leben zu fle­hen. Gleich­zei­tig muss sich das Unter­neh­men immer wie­der ver­si­chern, dass die Gei­seln unver­sehrt sind, und for­dert dazu Lebens­be­wei­se ein. „Man muss dar­auf set­zen, dass die See­leu­te für die Pira­ten eine Han­dels­wa­re sind. Wenn die­se Ware beschä­digt wird, kann sie nicht mehr so gut ver­kauft wer­den“, erklärt Ruthe.

Natür­lich ste­he aber die mora­li­sche Dimen­si­on immer im Vor­der­grund, wenn über Men­schen­le­ben statt über nor­ma­le Han­dels­wa­re ver­han­delt wird „Dazu gehört, dass man nicht um die letz­ten 30.000 US-Dol­lar feilscht und damit ris­kiert, dass sich das gan­ze unnö­tig um Tage in die Län­ge zieht“, stellt Ruthe klar.

Wenn die Eini­gung steht, beginnt der zwei­te, noch ris­kan­te­re Teil: die Pla­nung und Durch­füh­rung des Tauschs Löse­geld gegen Gei­seln. Ruthe, einst Mari­ne­of­fi­zier und spä­ter im nach­rich­ten­dienst­li­chen Bereich tätig, hält sich selbst dabei im Hin­ter­grund. Die Teil­nah­me an Ein­sät­zen wäre zu ris­kant. „Im Dschun­gel wür­de ich selbst zur Ziel­schei­be“, sagt er, „da wäre ich ein lau­fen­der 50.000-Dollar-Schein.“

Sein Unter­neh­men unter­hält dafür enge Kon­tak­te zu loka­len Spe­zia­lis­ten und Sicher­heits­dienst­leis­tern in Nige­ria, berät bei der Pla­nung des Trans­fers von Gel­dern, der Beschaf­fung von Trans­port­mit­teln und Eskor­ten sowie der Eva­ku­ie­rung der frei­ge­las­se­nen See­leu­te. „Das sind immer kom­ple­xe, mög­lichst geräusch­lo­se Ope­ra­tio­nen“, so der 39-Jäh­ri­ge. „Ich muss Wert­ge­gen­stän­de, die selbst Ziel kri­mi­nel­ler Akti­vi­tä­ten wer­den kön­nen, sicher von A nach B brin­gen und eine kom­ple­xe Auf­nah­me von Gei­seln pla­nen, die schnell und sicher außer Lan­des gebracht wer­den müs­sen.“ Obers­ter Grund­satz dabei: Es darf nicht gegen Recht und Gesetz ver­sto­ßen wer­den. „Gleich­zei­tig muss man auf alles gefasst sein.“

Ruthe hat über die Jah­re so eini­ges erlebt, kann erzäh­len von Löse­geld­über­brin­gern, denen die Rip­pen gebro­chen wer­den; von Pira­ten, die „high“ auf Dro­gen die Ner­ven ver­lie­ren und von ihren Kum­pa­nen über den Hau­fen geschos­sen wer­den. Von Flug­fel­dern, die besetzt wer­den, und Mit­tels­män­nern, die fest­ge­nom­men wer­den, bevor sie ihre Auf­ga­be erle­di­gen konn­ten.

Wel­che regio­na­len Straf­ver­fol­gungs­be­hör­den in die Kri­sen­fäl­le mit ein­zu­be­zie­hen sei­en müs­se man von Fall zu Fall abwä­gen. Bestimm­te Stel­len wie der Flag­gen­staat des Schiffs kom­men meist auto­ma­tisch mit ins Boot. Sofern deut­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge unter den Gei­seln sind, schal­tet sich auch das Bun­des­kri­mi­nal­amt mit ein. Wert­vol­le Unter­stüt­zung gebe es manch­mal auch von inter­na­tio­na­len Orga­ni­sa­tio­nen oder diplo­ma­ti­schen Kanä­len, berich­tet Ruthe. „Dafür möch­te man eini­ge loka­le Behör­den vor Ort unter Umstän­den gar nicht dabei­ha­ben, wenn es sich um insta­bi­le Län­der mit hoher Kor­rup­ti­on han­delt.“

Dass die Pira­te­rie vor Nige­ria bald ein­mal ver­schwin­det, kann sich Ruthe kaum vor­stel­len. „In der aktu­el­len poli­ti­schen Lage ist das Pro­blem nicht lös­bar. Da hän­gen zu vie­le Akteu­re mit drin.“ Für eine inter­na­tio­na­le Mari­ne-Mis­si­on wie die Ope­ra­ti­on Ata­lan­ta vor der Küs­te Soma­li­as bräuch­te man die Unter­stüt­zung der nige­ria­ni­schen Regie­rung. Die stellt sich aller­dings meis­tens quer. Dass die Schiff­fahrt ein­fach einen gro­ßen Bogen um die Regi­on macht, kom­me ange­sichts der wach­sen­den Bedeu­tung der Märk­te auch nicht infra­ge. So wer­den die nächs­ten Ein­sät­ze für Ruthe und sein Team nicht lan­ge auf sich war­ten las­sen. (jpn)